Über das Hören von Feature und Hörspiel

Das Feature „Abschiedsbrief konnte nicht gefunden werden“ (1974) und das Hörspiel “Die Wolfshaut” (2005, Teil 1), die ich kürzlich hier in einem Radio-Tipp angekündigt hatte, inspirierte mich zu folgenden Überlegungen über das Hören:

Das Feature hat mir gezeigt, dass es eine Form des Hörens gibt, die ich manchmal vergesse, obwohl sie am Grund aller Kultur steht: das Hören, das dazu dient, etwas zu erfahren. Jemand erzählt ohne jeden Anflug von Kunst, in seiner Alltagssprache oder auch in dem in seinem Beruf üblichen Jagon (hier: Polizei), was geschehen ist. So erfahre ich von der bleiernen Hoffnungslosigkeit in der Existenz dieses Mannes, der sich erhängt hat.

Es erzählen die Polizeibeamten, die gerufen werden, es erzählen eine Kriegerwitwe, die den Alkoholiker versorgte, und seine Tochter, die sich von ihm abgewandt hatte, wie alles gekommen ist. Sie breiten das Böse einer Alltagsbanalität aus, die schon abgerieben ist von den vielen, die sich gegen sie gestemmt und sich ihr dann ergeben haben.

Das Feature: barmherzige Bilderarmut?

Ein Hören, das zugleich barmherzig ist, weil es uns die Bilder erspart, die sich den Beteiligten am Fundort der Leiche & in der Wohnung des Toten bieten – der Schmutz, die Unordnung, die Trostlosigkeit der leeren Wände, wo die nun verpfändeten Bilder hingen, die leeren Flaschen, die an allen möglichen & unmöglichen Stellen herumrollen. Und vielleicht erspart es uns auch den Ausdruck im Gesicht der Kriegerwitwe, das Gewöhnliche vielleicht, das Resignierte.

An einer Stelle aber wird es unbarmherzig, weil die Geräusche so wenig eindeutig sind, dass unsere Phantasie uns nicht nur eines, sondern viele brutale Bilder liefert davon, wie es aussehen könnte, wenn zwei Polizeibeamte die Leiche eines Mannes, der sich mit einem Stromkabel am Fenstergriff erhängt hat, herunterschneiden. Eine neutrale Stimme, aus der das ganz Graue dieses trostlosen Themas spricht, protokolliert den Vorgang. Wir hören den entscheidenden Moment, wenn das Gewicht des Mannes die beiden Polizisten taumeln lässt und die Leiche zu Boden poltert.

Der Kopf wird abgetastet, um festzustellen, ob Schädelverletzungen vorliegen. (…) Die Kleidung wird etwas heruntergezogen, um zu zeigen, ob die Leiche äußerliche Verletzungen aufweist.

Hier wird dem Ohr nichts geboten als nackte Fakten & nüchterne Raumklänge, die es ungeprüft zur Verarbeitung ans Gehirn weiterreicht. Die Phantasie wird kaum beschäftigt: Sie hat nur Mängel zu verwalten.

Das Hörspiel: mundgerechte Häppchen für die Phantasie?

Ganz anders beim Hörspiel, und deshalb war es interessant, beides an einem Tag zu hören. Der Sprecher beginnt mit einem Satz, der künstlerische Überhöhung geradezu atmet:

Doch ward ich vom Vater versprengt. Seine Spur verlor ich, je länger ich forschte. Eines Wolfes Fell nur traf ich im Forst. Leer lag das vor mir. Den Vater fand ich nicht.

Was in dem Stück passiert, mag, auf ganz andere Art natürlich, ein ähnlich banaler, deprimierender Alltag sein wie im Feature: Doch hier werden die Fakten gestaltet, überhöht, ironisch gebrochen, auf jede Weise in die Mangel genommen, so dass das Ohr nur noch die Aufgabe hat, das schon Gestaltete weiterzureichen an die Kunstverarbeitungszentrale des Gehirns. Der Phantasie bleibt hier, wider Erwarten, weniger Raum. Die Arbeit des Gestaltens und Ausschmückens nackter Fakten haben schon andere übernommen: Romanautor, Regisseur, Schauspieler, Tonmeister … Natürlich muss die Phantasie auch hier die Bilder liefern, wie bei jedem „bildlosen“ Kunstwerk – aber das künstlerische Hörspiel macht es ihr leichter, bietet mehr Anregungen und Assoziationen. Die Phantasie hat, wenn man so will, weniger Arbeit mit der „Vorlage“.

Das alles gilt natürlich vor dem Hintergrund der bekannten Voraussetzungen: dass die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion fließend sind, dass auch die Auswahl und Präsentation der Fakten im Feature schon Gestaltung bedeuten, dass die Sprache eine große Rolle spielt, und so weiter.

Für mich war die Einsicht dieses Hörabends freilich, dass das Hören von Feature und Hörspiel sich auf andere Art unterscheiden, als ich angenommen hatte. Was sagt ihr dazu? Was bedeutet für euch Phantasie beim Hören? Wie versteht ihr die auf den ersten Blick so offensichtlichen Unterschiede zwischen Feature und Hörspiel? Was hört ihr lieber? Was sind eure Wahrnehmungen und Ziele als Macher von Hörstücken?

(Die eigentliche Besprechung der „Wolfshaut“ steht noch aus, da der zweite Teil ja auch erst heute abend gesendet wurde.)

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